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BAGAGE News N° 11 vom 13.05.2025

Wut tut gut

Gefühle achtsam begleiten

von Daniela Faller

Wut begegnet uns im pädagogischen Alltag fast täglich: wenn ein Kind ein Spielzeug nicht teilen möchte, wenn es sich ungerecht behandelt fühlt oder überfordert ist. Für uns Fachkräfte ist das oft eine Herausforderung – besonders, wenn der Tag ohnehin schon turbulent ist und die eigenen Kräfte begrenzt sind.

Wut wird im Gruppengeschehen schnell als „problematisch“ empfunden – laut, störend, unbequem. Doch sie ist ein wichtiges Gefühl: kraftvoll, ehrlich und ein Signal dafür, dass ein Kind etwas braucht oder schützen will.

Wie also können wir Kinder im Kita-Alltag achtsam in ihrer Wut begleiten – ohne dabei selbst unterzugehen? Wie können wir sie ernst nehmen, ohne sie kleinzureden oder zu unterdrücken? Und wie schaffen wir es, im Trubel präsent zu bleiben, wenn der Gefühlssturm tobt?

Wut im Kita-Alltag: Wenn Lorena schreit

Ein Mädchen – nennen wir sie Lorena – wirft sich schreiend auf den Boden. Die Fachkraft atmet tief durch, geht in die Hocke, bleibt ruhig.
Sie sagt: „Ich bin da. Du bist gerade sehr wütend, oder?“
Keine schnelle Lösung, kein Ablenken. Nur Präsenz.

Das ist Co-Regulation: Kinder erleben starke Gefühle, sind überwältigt – und brauchen einen ruhigen Erwachsenen, der mit ihnen fühlt, statt sie zu kontrollieren. Das kostet Kraft. Und oft sind wir am Limit. Denn viele Fachkräfte und Eltern erleben täglich Grenzsituationen. Die Ansprüche sind hoch, die Ressourcen knapp. Wenn dann ein Kind mit voller Wucht seine Wut zeigt, werden auch unsere eigenen Grenzen spürbar.

Doch genau hier liegt eine Chance: In solchen Momenten können wir innehalten, uns selbst beobachten – und erkennen, dass auch unsere Gefühle Raum brauchen. Achtsamkeit hilft uns, nicht reflexhaft zu reagieren, sondern bewusst zu handeln.

Was passiert bei Wut im Gehirn?

Wenn Kinder wütend sind, reagieren sie nicht „absichtlich schlecht“, sondern befinden sich in einem neurobiologischen Ausnahmezustand. Wut ist – wie Angst oder Trauer – eine grundlegende Emotion, die evolutionär gesehen eine Schutzfunktion erfüllt. Sie signalisiert: Hier stimmt etwas nicht! Ich brauche etwas oder will mich abgrenzen!

Neurobiologisch betrachtet handelt es sich bei Wut um eine klassische Stressreaktion. Das Gehirn schaltet auf Überlebensmodus: Kampf, Flucht oder Erstarrung. Die Amygdala, auch „Gefühlszentrum“ des Gehirns genannt, übernimmt das Steuer. Sie bewertet Situationen emotional – blitzschnell und unbewusst – und sendet Signale an den Körper: Der Puls steigt, die Muskeln spannen sich an, Stresshormone wie Cortisol und Adrenalin werden ausgeschüttet. Gleichzeitig wird die Aktivität im präfrontalen Cortex, dem Sitz für logisches Denken, Impulskontrolle und Sozialverhalten, heruntergefahren. Für den pädagogischen Alltag bedeutet das: In der Wut kann ein Kind nicht zuhören, keine Regeln verstehen und keine Konflikte konstruktiv lösen. Es braucht keine Strafen, sondern unsere präsente, regulierende Begleitung. Eine Fachkraft, die selbst innerlich stabil bleibt und das Gefühl nicht abwehrt, sondern hält, wird zum sicheren Anker im Sturm.

Bedürfnisorientierte Pädagogik heißt auch: Wut hat Platz

In der bedürfnisorientierten Begleitung gilt:

  • Gefühle: Was zeigt das Kind gerade? Wie zeigt sich die Wut?
  • Bedürfnisse: Welche Bedürfnisse stecken dahinter? Was war der Auslöser?
  • Strategien entwickeln: Wie kann das Kind lernen, mit seiner Wut umzugehen – ohne sie zu unterdrücken? Wie kann ich das Kind unterstützen?

Nicht jede Strategie ist sofort verfügbar. Manchmal hilft eine Umarmung. Manchmal der Rückzug. Manchmal klare Worte. Immer aber hilft: unsere Beziehung.

Wie können Gefühle wie Wut bedürfnis- und bindungsorientiert begleitet werden?

In der bedürfnis- und bindungsorientierten Pädagogik wird Wut nicht als „Fehlverhalten“ betrachtet, das es zu unterdrücken gilt – sondern als Ausdruck eines unerfüllten Bedürfnisses. Kinder zeigen durch ihre Gefühle, dass etwas für sie gerade nicht passt: Sie sind überfordert, fühlen sich nicht gesehen, wollen Autonomie oder Nähe. Die Wut ist ein Signal, kein Problem.

Statt also die Emotion zu bewerten oder zu unterbinden („Jetzt beruhig dich endlich!“), geht es darum, empathisch präsent zu bleiben. Die Fachkraft begegnet dem Kind nicht mit Härte, sondern mit Halt. Sie fragt sich: Was könnte mein Kind oder dieses Kind gerade wirklich brauchen? Vielleicht Schutz, Verständnis, eine Grenze – oder schlicht das sichere Gefühl: Du bist mit deiner Wut nicht allein.

Bindungsorientierung bedeutet in solchen Momenten: Ich bleibe in Kontakt. Ich lehne das Kind nicht ab, auch wenn sein Verhalten herausfordernd ist. Ich sorge dafür, dass es sich emotional sicher und verbunden fühlt – gerade weil es aus der Balance geraten ist.

Bedürfnisorientierung fragt zusätzlich: Welche Bedürfnisse stehen hinter dem Verhalten? Diese Haltung erlaubt einen Perspektivwechsel – weg vom Verhalten, hin zur Beziehung. Die Wut wird so nicht zum Machtkampf, sondern zur Einladung, in Verbindung zu bleiben, auch wenn es stürmisch wird.

Konkret kann das so aussehen:

  • Ich bleibe körperlich und emotional präsent, aber mit klaren Grenzen: „Ich sehe, du bist richtig wütend. Ich bin bei dir. Und ich pass auf, dass niemand verletzt wird.“
  • Ich benenne Gefühle und biete Worte an, wenn das Kind es selbst noch nicht kann: „Das war dir zu viel. Du wolltest das nicht. Jetzt bist du richtig sauer.“
  • Ich reguliere mich selbst, bevor ich das Kind beruhige. Denn Co-Regulation beginnt bei der Selbstwahrnehmung der Fachkraft.
  • Ich gehe nach dem Sturm in Verbindung, z. B. durch Nachgespräche, Gesten der Versöhnung oder kreatives Verarbeiten (z. B. malen, spielen, Bücher zum Thema).

Diese Form der Begleitung erfordert Beziehungsarbeit, Selbstreflexion und Zeit – ist aber eine zentrale Grundlage dafür, dass Kinder emotionale Kompetenz entwickeln. Denn nur, wenn sie erleben: Meine starken Gefühle sind okay. Ich bin trotzdem willkommen, können sie lernen, mit diesen Gefühlen selbstständig umzugehen.

Wut ist kein „schlechtes“ Gefühl, sondern ein kraftvolles Signal für unerfüllte Bedürfnisse. In der Kita bedeutet das: Kinder brauchen in ihrer Wut keine Strafen, sondern Verbindung, Halt und Resonanz. Wenn wir ihnen empathisch und klar begegnen, statt zu bewerten oder zu kontrollieren, stärken wir nicht nur ihre emotionale Entwicklung – sondern auch unsere Beziehung zu ihnen. Wut tut gut – wenn sie gesehen und begleitet wird.

 

Daniela Faller gibt bei BAGAGE u. a. die Fortbildungen

Herausforderungen im frühkindlichen Alltag und
Bedürfnisse, Emotionen und Grenzen, bei denen es auch um die im Artikel angesprochenen Themen geht.

Quellen: 
Kathrin Hohmann - "Gemeinsam durch die Wut" 
Lea Wedewarth und Kathrin Hohmann "Kinder achtsam und bedürfnisorientiert begleiten" 

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