BAGAGE News N° 2 vom 30.11.2022
Ästhetische Bildung und Kreativität von Anfang an
von Birgit Lüdtke-Brucker
Was ist eigentlich „ästhetische Bildung“ und warum ist die Möglichkeit zu selbständigem kreativem Arbeiten schon für die Kleinsten so wichtig?
Ästhetik heißt wörtlich übersetzt „Lehre des sinnlichen Wahrnehmens“ und unter Bildung verstehen wir die Aneignungsfähigkeit, mit der sich der Mensch ein Bild von der Welt macht. Demnach bedeutet ästhetische Bildung das Erfassen der Welt mit allen Sinnen. Um die Kinder bei dem für sie so wichtigen „Kennenlernen ihrer Lebenswelt“ zu unterstützen, ist es unsere Aufgabe, ihnen eine große Vielfalt an sinnlichen Eindrücken zu ermöglichen. Wir müssen Gelegenheiten schaffen, in denen sich die Kinder mit den Gegebenheiten ihrer (Um-) Welt aktiv auseinandersetzen können und bereit sein, die daraus folgenden Erkenntnisprozesse aufmerksam und unterstützend zu begleiten.
Um ein Verständnis ihrer Lebenswelt zu entwickeln, brauchen Kinder vor allem den konkreten Umgang mit Dingen. Ihr Erkennen ist eigentlich immer mit Tun verbunden und besonders gestalterisch-schöpferische Tätigkeiten geben dem Denken der Kinder sichtbaren Ausdruck – die Kinder lernen „handelnd zu begreifen“. Kinder brauchen Raum und Zeit, um die Vielfalt an Sinnesinformationen, denen sie täglich ausgesetzt sind, zu verarbeiten, zu vertiefen, Zusammenhänge herzustellen und komplexe Vorgänge verstehen zu können. Und sie brauchen eine (Lern-) Atmosphäre, die von Vertrauen, Respekt, Toleranz und Wertschätzung geprägt ist - und letztendlich brauchen sie Menschen, die sie in ihrem kreativen Tun begleiten, beraten und ernst nehmen.
Leider steht eben diesen Menschen – also uns Erzieher*innen, Lehrer*innen und Eltern - häufig die eigene Vorstellung der zu erreichenden Ergebnisse im Weg. So lenken wir, bewusst oder unbewusst, häufig das kreative Handeln der Kinder in eine bestimmte Richtung, die den spontanen „Forscherdrang“ hemmt und eigene Gestaltungsideen verhindert. Also: Raus aus der Ergebnisfalle und sensibel werden für die Wahrnehmung wertvoller Entwicklungsprozesse!
Eine wichtige Voraussetzung für das Anregen dieser kreativen Prozesse ist es, selbst neugierig zu bleiben: Gemeinsam mit den Kindern Fundstücke oder Alltagmaterialien (neu) zu entdecken, zu be- oder verarbeiten, zu erforschen und die gefundenen Erkenntnisse untereinander auszutauschen.
Dabei ist es sinnvoll, sich schon vorher notwendiges Material- und Funktionswissen anzueignen, um den Kindern bei Bedarf konkrete Hilfestellung und Unterstützung anbieten zu können.
Auch brauchen manche Kinder im selbständigen Tun immer mal wieder Anregungen oder neue Impulse, die Lust machen, weiter zu forschen, zu malen zu bauen und mutig Neues zu entdecken oder zu erschaffen. Die Kunst der idealen (Lern-) Begleitung besteht darin, das richtige Maß zu finden, um freies, interessengeleitetes Tun zuzulassen, aber auch anregende Impulse einzubringen und unterstützende Hilfestellung zu geben, wenn sie nötig ist.
„Ästhetische Bildung ist kein neuer Trend, kein Programm für die Kinder wie Sprachförderung oder Mathematische Früherziehung (…). Sie ist vielmehr unverzichtbar, da sie den Kindern Problemlösungsstrategien für ihr ganzes weiteres Leben in Alltag, Schule und Beruf an die Hand gibt, die sie auch dann anwenden können, wenn keine nachahmbaren Lösungen vorhanden sind und eigene Antworten auf die Herausforderungen des Lebens gefunden werden müssen.“ (D. Braun: Kreativität in Theorie und Praxis, 2011)
Birgit Lüdtke-Brucker ist Diplom-Pädagogin, Atelier- und Werkstattpädagogin, freischaffende Künstlerin und künstlerische Leiterin der Pädagogischen Ideenwerkstatt BAGAGE